Cold Call to Vote: Ein Bericht zur Wahl in Alberta
bei Maximilian Lembke
»Hi, I’m Pamela Rath«, heißt es auf der Mailbox.
Ich werde so gut wie nie aus Kanada angerufen. Lange wohne ich auch noch nicht hier in Calgary. So häufig, wie es in letzter Zeit aber klingelte, glaubte ich schon: Da meint es aber jemand ernst.
Pamela Rath will am 29. Mai meine Stimme in den Parlamentswahlen für die Provinz Alberta. Sie ist die Kandidatin für die United Conservative Party (UCP) im Wahlkreis Calgary-Mountain View, wo seit 19 Jahren kein Konservativer mehr siegreich war. Seit 2019 hält Kathleen Ganley von der National Democratic Party (NDP) den Parlamentssitz.
So sehr sich Pamela Rath endlich »a seat at the table« wünscht, ich kann ihr dabei nicht helfen. Ich bin nicht wahlberechtigt. Und wenn ich es wäre, könnte ich nicht für sie stimmen, denn ich wohne in einem anderen Wahlkreis.
In den vergangenen Wochen wurde ich beinahe täglich angerufen, sodass ich das Klingeln irgendwann geflissentlich ignorierte. Rath hat es zumindest in meine Mailbox geschafft. Die Herausforderer von der NDP hingegen schickten mir ihre Wahlwerbung per SMS – obwohl, genau genommen nicht mir, sondern »Raphael«, wer auch immer das ist – um mir mitzuteilen, dass nur ihrer Spitzenkandidatin Rachel Notley zu trauen sei. Ein Motiv, dass mir noch häufiger begegnete.
Viele Male drückte ich auf »Skip«, wenn die düsteren, verleumderischen YouTube-Ads vor jedem Video anliefen: In einer hieß es, Rachel Notley und die NDP wollen an das Geld hart arbeitender Menschen und die Steuern erhöhen, wie sie es schon 97-mal getan haben sollen. In einer anderen verzockte Danielle Smith und die UCP rücksichtlos die wohlverdiente Rente beim Roulette. Ungefähr auf diesem Niveau bewegte sich der Wahlkampf aus Wählerperspektive. Und immer wieder die Frage: »Kann man einer solchen Person trauen?«
Die Protagonistinnen
Danielle Smith von der United Conservative Party ist Amtsinhaberin, allerdings erst seit sieben Monaten. Sie übernahm von Jason Kenney, als dieser sich, nach einer umstrittenen COVID-Politik, zum Ende der Pandemie als Parteichef und Premier zurückzog und Smith das umkämpfte Rennen um die Parteispitze der UCP gewann. Laut der Werbespots stelle sie das öffentliche Gesundheitssystem in Frage und wolle Menschen Geld für einen routinemäßigen Arztbesuch abknöpfen.
Das sagt zumindest Rachel Notley. Sie ist die Herausforderin der sozialdemokratischen NDP. Sie war bereits Premier und regierte Alberta vier Jahre lang nach ihrem Sensationssieg 2015 über ein zerstrittenes und gespaltenes konservatives Lager von Wildrose Party und Progressive Conservatives. Ein eher ungewollter »Erfolg« ihrer Amtszeit: Ihr gelang es als neues Feindbild, die beiden konservativen Parteien in der neuen UCP zu einen und unterlag 2019 deutlich. Laut der Wahlwerbung der UCP komme sie direkt von einer Dinnerparty mit Justin Trudeau, wo die beiden angeblich beschlossen haben sollen, Albertas Energiewirtschaft in den Abgrund zu stürzen.
Da wären wir auch beim Thema
Alles wenig konstruktiv also. Überraschend zivilisiert war hingegen die Fernsehdebatte der beiden Kandidatinnen. Beide hielten sich gekonnt an ihre Redezeit. Es wurde oft persönlich und konfrontativ, aber nie laut bei den Themen, die diese Wahl bestimmen: Lebenshaltungskosten, Gesundheit, Wirtschaft. Oder um es kurz zu machen. Es geht um Geld. Natürlich. Alles wird teurer. Auch in Alberta. Wohnen, Lebensmittel, Benzin. Kein Wunder also, dass beide Parteien die aktuell größten Kostenpunkte, Energie und Gesundheit, ins Zentrum dieses Wahlkampfs und der Gegenseite in die Schuhe schieben.
Die NDP macht vor allem mit einem Video-Schnipsel von Danielle Smith Wahlkampf, in dem sie sagt: »A regular checkup to your doctor, does that really have to be something that is covered 100 per cent by government…?« Daraus wird schnell: Die UCP wolle die gesetzliche Krankenversicherung aufweichen und das öffentliche Gesundheitssystem durchprivatisieren – und das in Zeiten, in denen die Wartezeiten bei den zu wenigen niedergelassenen Ärzten in der Provinz viel zu lang sind und viele bereits auf teure, privatwirtschaftliche Angebote umsteigen. Dass diese existieren, sei laut Smith der einzige Grund, dass die Gesundheitsversorgung noch gewährleistet werden kann, nachdem Notley und die NDP das System mit überbordender Bürokratie in die Knie gezwungen habe.
Noch größeren Kostendruck verursachen die Energiepreise. Wohnnebenkosten lasten insbesondere durch stark gestiegene Gaspreise schwer auf den Haushalten. Die Strompreise sind in den letzten 18 Monaten explodiert. Die Energieindustrie um Öl und Gas ist wirtschaftlich das Herzstück von Alberta und identitätsstiftend für die Provinz. Sie hat schwere Zeiten hinter sich und herausfordernde vor sich, fallen fossile Brennstoffe klimapolitisch aus dem Zeitgeist und in Ungnade – laut der UCP vor allem durch den Weg von Notley und Premierminister Trudeau. Beide werben für eine zügigere Abkehr von den fossilen Ressourcen hin zu Erneuerbaren. Dieser Transformationsplan werde zu Lasten der Wirtschaft in Alberta gehen, so Smith. Sie stehe zur Energiewirtschaft. Anders als Notley wolle sie keine Unternehmenssteuern erhöhen und Unternehmen dabei unterstützen, z. B. durch LNG-Exporte, neue Umsätze zu generieren. Notley widerspricht in diesem Punkt nur insoweit, dass der Steuersatz unter ihr weiterhin landesweit der niedrigste bleiben werde, selbst wenn sie ihn erhöhe, um ins Gesundheits- und Bildungssystem zu investieren.
Die Provinz brennt
Das Wahlkampfthema, das niemand kommen sah: Verheerende Waldbrände im Norden Albertas. Über 30.000 Menschen mussten in den vergangenen Wochen evakuiert werden. Zuletzt war die Rede von bis dato über 500 Bränden. Viele lodern noch, andere sind weiterhin außer Kontrolle.
Der Mai ist in Alberta bekannt für sein erhöhtes Waldbrandrisiko. Die Waldbrände dieses Jahr haben aber ein noch nie zuvor gesehenes Ausmaß angenommen. Bereits jetzt ist so viel Fläche abgebrannt wie sonst in einem ganzen Sommer. Es sollen über 1 Million Hektar betroffen sein. Calgary blieb vom Feuer verschont, aber der Qualm war so üppig, dass er vom Präriewind über viele hunderte Kilometer bis in die Stadt getragen wurde. Mehrere Tage lag die Stadt in einem gelblichen Dunst, als wäre die Apokalypse hereingebrochen. Die Sonne blieb nur ein kleines orangenes Glimmen am Himmel. Die Luft war wie frisch aus dem Holzkohlegrill. Die Behörden warnten die Menschen davor, vor die Tür zu gehen.
Naturkatastrophen inmitten eines Wahlkampfs sind immer ein zweischneidiges Schwert. Wer es führt, kann einerseits Führungskompetenz beweisen. Andererseits, wer kopflos agiert, kann sich damit auch schnell politisch selbst enthaupten. Als Amtsinhaberin trägt Danielle Smith diese Bürde.
Viele Experten bezweifeln aber, dass die Waldbrände diese Wahl entscheiden werden. Dafür spricht auch der Umgang beider Kandidatinnen mit der Situation zwischen Wahlkampagne und Waldbrand: Rachel Notley bot ihrer Kontrahentin sogar umgehend Unterstützung an, hatte sie es seinerzeit als Premier ebenfalls mit verheerenden Bränden zu tun. 2016 wurden rund 88.000 Menschen evakuiert. Sie verzichtete auf Kritik und traf sich schließlich mit Smith zur Beratung. Nach dem Treffen twitterte diese: »At times like these, Albertans expect all their elected leaders to work together to help our people.« Dieser Waffenstillstand setzte sich auch in der so wichtigen Fernsehdebatte einige Tage später nieder. Die Waldbrände waren kein Thema. Notley dankte zwar den Einsatzkräften, verzichtete aber auf Frontalangriffe. Die Situation war beiden wohl zu heikel, um so kurz vor der Wahl darauf zu spekulieren, wertvolles politisches Kapital herauszuschlagen – oder aber teuer zu verspielen.
Wie sind die Prognosen?
Erstmals in der Geschichte der Provinz wird mit einem echten Kopf-an-Kopf-Rennen von zwei Parteien gerechnet. Triumphierten traditionell die Konservativen, mit Ausnahme von 2015 als Rachel Notley und die NDP in a landslide über die Prärie und die zerstrittenen Konservativen fegten, könnte es dieses Jahr wirklich eng werden – auch weil Danielle Smith weit davon entfernt ist, populär zu sein. Beide Kandidatinnen können Regierungserfahrung vorweisen – jedoch ohne große, bestechende Verdienste. »I am running on my record. Ms. Notley is running away from hers«, sagte Smith während der Fernsehdebatte treffend. Die langjährige Radiojournalistin ist vor allem bekannt für kontroverse Aussagen, jüngst für einen Justizskandal und ihr bisher wenig erfolgreicher Konfrontationskurs mit Trudeaus Regierung; Notley ist hingegen bekannt durch ihre Abwahl in 2019 und ihre Nähe zu Ottawa.
Wer von den beiden das Vertrauen erhält, entscheiden am Montag mehr als 2,6 Millionen registrierte Wählerinnen und Wähler. Es wird mit einer Wahlbeteiligung von rund 70 Prozent gerechnet. Gewählt werden Direktkandidatinnen und -kandidaten vor Ort in 87 Wahlkreisen. Besonders Calgary könnte eine große Rolle spielen. Auf dem Land wird traditionell konservativ gewählt und es wird erwartet, dass dort nicht mehr als fünf Wahlkreise an die NDP verloren gehen könnten, obwohl die CBC kürzlich neue, leichte demographische Verschiebungen zur NDP beobachtete. Die dürfte wieder einige Sitze in Edmonton erringen. 2019 räumt sie dort nahezu alle Wahlkreise ab. Das tendenziell konservativere Calgary hingegen könnte erstmals deutlich ausgeglichener ausfallen und damit die Wahl entscheiden.
Für Pamela Rath dürfte das Hoffnung und Sorge zugleich sein. Sie wird vor Montag noch ein paar Mal bei mir anrufen.
Bericht bei Maximilian Lembke
Maximilian Lembke lebt und arbeitet seit 2022 als freier Redakteur in Calgary, Alberta. Zuvor studierte er Politikwissenschaften und American Studies in Frankfurt am Main und in Maynooth (Irland), arbeitete für eine große Technologieberatung und betreute ehrenamtlich Kampagnen für Wahlen in Land, Bund und Europa.
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